Wie so oft tauchen manche Detail-Fragen und -Probleme erst bei der Umsetzung auf. Ein solches Thema betrifft sog. Ortskräfte aus Afghanistan, die inzwischen mit einer Aufnahmezusage der Bundesrepublik Deutschland angekommen, deren Ehepartner oder Kinder jedoch noch weiterhin in Afghanistan sind.
Nun kommt die Frage auf, wie damit umgegangen wird.
Im Folgenden geht es noch nicht einmal um die Frage, ob, wann und wie diese Familienangehörigen ebenfalls evakuiert werden können, sondern um die Frage, was das bereits hier in Deutschland angekommene und formell aufgenommene Familienmitglied nun rechtlich tun sollte, um den Nachzug des Ehepartners und/oder der Kinder auch tatsächlich rechtlich abzusichern.
Vorbemerkung
Es ist 1. jeder Fall ein Einzelfall und deshalb individuell zu beurteilen. 2. Gibt es RechtsanwältInnen (was wir nicht sind), die dazu noch kompetentere und individuellere Aussagen treffen können. 3. Die Lage in Afghanistan und auch bei der Bunderegierung ist in jeder Hinsicht volatil und kann sich auch nahezu täglich verändern. 4. Wir geben deshalb nur unsere – hoffentlich fundierte – Meinung wieder. Diese muss nicht für jeden Einzelfall und jede Konstellation hilfreich sein.
Bitte deshalb immer jeweils den Einzelfall betrachten und sich dazu anwaltlich beraten lassen! Dies ist eine Einschätzung aus unserer Sicht mit Stand zum 07.09.2021.
Die Ausgangslage
Aufgenommene Ortskräfte sind mit einem Visum eingereist oder haben ein solches bei den Evakuierungen Ende August sogar erst hier erhalten. Diese Visa wurden von der Bundespolizei gem. § 14 Abs. 2 AufenthG ausgestellt, berechtigen zu einer Einreise und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 Satz 2 AufenthG und haben eine Gültigkeit von 3 Monaten.
Nach der Ankunft in Frankfurt/Main wurden diese Ortskräfte auf mehrere Verteilzentren in Deutschland, z.B. in Berlin verteilt.
Auf dieser Basis erteilt dann die zuständige Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis nach § 22 AufenthG.
Die mit dieser Aufenthaltserlaubnis verbundenen Rechte haben wir hier bereits über die ergänzten Hinweise vom BAMF und vom BMAS hier dargestellt:
Das entscheidende an dieser Stelle ist, dass ein Familiennachzug zu Menschen mit dieser Aufenthaltserlaubnis nach § 22 AufenthG gem. § 29 Abs. 3 AufenthG nur sehr eingeschränkt erteilt werden darf:
3) Die Aufenthaltserlaubnis darf dem Ehegatten und dem minderjährigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 22, 23 Absatz 1 oder Absatz 2 oder § 25 Absatz 3 oder Absatz 4a Satz 1, § 25a Absatz 1 oder § 25b Absatz 1 besitzt, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden.
§ 29 AufenthG
Im Ergebnis – und auch, wenn sich die Formulierungen zunächst irgendwie hilfreich und stimmig anhören – wird ein Familiennachzug nach der Gesetzeslage nur ausgesprochen selten erteilt.
Erinnert sei daran, dass wir § 22 AufenthG bereits im Kontext des Familiennachzuges ausführlich diskutiert hatten:
Asylantrag als Ausweg? Nein!
Es gibt deshalb desöfteren die Idee, alternativ auf einen Asylantrag auszuweichen, um über einen dort erteilten Schutzstatus eine bessere Chance auf den Familiennachzug zu haben.
Tatsächlich ist dies jedoch aus mehreren Gründen keine gute Idee:
- Visum erlischt
Gemäß § 55 AsylG erlischt mit der Stellung des Asylantrages das Visum, weil es keine Geltungsdauer vonn länger als 6 Monaten hat(te):
2) Mit der Stellung eines Asylantrags erlöschen eine Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels und ein Aufenthaltstitel mit einer Gesamtgeltungsdauer bis zu sechs Monaten sowie die in § 81 Abs. 3 und 4 des Aufenthaltsgesetzes bezeichneten Wirkungen eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels. § 81 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes bleibt unberührt, wenn der Ausländer einen Aufenthaltstitel mit einer Gesamtgeltungsdauer von mehr als sechs Monaten besessen und dessen Verlängerung beantragt hat.
§ 55 AsylG
2. Aufenthaltserlaubnis erlischt
Wurde zwischenzeitlich die Aufenthaltserlaubnis bereits erteilt (Erteilung beginnt dabei mit Aushändigung des Aufenthaltstitels), erlischt diese Aufenthaltserlaubnis nach § 51 Abs. 1 Nr. 8 AufenthG ebenfalls bei Stellung eines Asylantrages:
(1) Der Aufenthaltstitel erlischt in folgenden Fällen:
§ 51 AufenthG
…
8. wenn ein Ausländer nach Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß der §§ 22, 23 oder § 25 Abs. 3 bis 5 einen Asylantrag stellt;
Folgen eines positiven Asylantrages
Unterstellt, jemand würde durch das Asylverfahren laufen und eine Schutzzuerkennung erhalten, ergeben sich die folgenden Konstellationen, die derzeit jedoch noch nicht weiter absehbar sind (siehe Absatz Stand Asylentscheidungen BAMF):
- Anerkennung als Flüchtling
In diesem Fall, also bei einer festgestellten individueller Verfolgung, würde ein Anspruch auf einen vereinfachten Familiennachzug bestehen, wenn dies innerhalb von 3 Monaten nach Zuerkennung des Schutzstatus angemeldet wird. Auf dieser Grundlage entfallen vor allem die Lebensunterhaltssicherung, Sprachkenntnisse des Nachziehenden und auch kein Wohnraumerfordernis.
Voraussetzung ist jedoch der festgestellte individuelle Nachweis einer persönlichen Verfolgung und Bedrohung.
Familiennachzug ist hier grundsätzlich nur nach § 36a AufenthG möglich. Dies ist das Ergebnis der Änderungen des Migrationspaketes 2019. Weitere Folge ist, dass jeweils nur 1.000 Visa monatlich für den Familiennachzug ausgestellt werden dürfen, die sich nach dem jeweils individuellen „Grad“ des „Härtefalles“ richten.
Hier „konkurriert“man dann zukünftig u.a. mit allen subsidiär Geschützen aus Syrien und allen (eher wenigen) Menschen mit subsidiärem Schutz aus Afghanistan, die diesen Titel schon lange bekommen haben.
Zudem verweisen wir dringend dazu auf den folgenden Hinweis zur Entscheidungspraxis des BAMF!
3. Abschiebeverbot
Bei einem vom BAMF zuerkannten Abschiebeverbot richtet sich der Familiennachzug ebenfalls nach § 29 Abs. 3:
3) Die Aufenthaltserlaubnis darf dem Ehegatten und dem minderjährigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 22, 23 Absatz 1 oder Absatz 2 oder § 25 Absatz 3 oder Absatz 4a Satz 1, § 25a Absatz 1 oder § 25b Absatz 1 besitzt, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden.
Kurz gesagt: Es ergibt sich hier keinerlei Verbesserung gegenüber der Aufenthaltserlaubnis nach § 22.
Stand Asylentscheidungen BAMF
Das BAMF hat momentan Asylentscheidungen zu Afghanistan ausgesetzt. Alle vorliegenden Asylanträge wurden „rückpriorisiert“ und warten auf einen neuen Lagebericht des Auswärtigen Amtes.
Dieser Lagebericht wurde zwar erst im Juli „aktualisiert“, bezog sich jedoch damals schon auf einen veralteten Stand und ist jetzt so oder so veraltet.
Ob, wann und mit welchem Inhalt das Auswärtige Amt 1. eine Aktualisierung vornimmt und 2. ob diese dann auch den tatsächlichen Stand widerspiegelt, ist im Moment noch völlig offen.
Wir und einige andere haben zwar diese aus unserer Sicht relativ einfache Aktualisierung genau aus diesem Grund – Fortsetzung von Entscheidungen des BAMF – gefordert, absehbar ist es jedoch nicht.
Ausführlicher dazu hier:
Es ist aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan deshalb leider zu befürchten, dass unter Umständen eine aktualisierte Lage nun zwar individuelle Verfolgungen durch Taliban landesweit bestätigen würde, aber Subsidiärer Schutz über den Lage-Bericht u.U. deshalb nicht zuerkannt würde, weil es aktuell keinen umfassenden Bürgerkrieg in Afghanistan gebe und die Taliban zwar eine diktatorische und repressive Macht seien, aber es eben keine landesweiten kriegerischen Handlungen gebe. Eine solche Auslegung war auch schon Gegenstand von letzten noch durchgeführten Verfahren vor Veerwaltungsgerichten Ende August.
Insofern könnte eines der Ergebnisse eines Lageberichtes und der daraus abgeleiteten Asylentscheidungen sein, dass in einigen Fällen nun zwar eine Flüchtlingsanerkennung erfolgt, in weit überwiegenden Fällen jedoch nur ein Abschiebungsverbot das Ergebnis sein könnte.
Ein solches Ergebnis bzw. Lageeinschätzung entspricht zwar nicht unserer Meinung und wäre u.U. Auch letztlich wieder über Gerichte zu klären, aber es kann zunächst die Grundlage für Asylentscheidungen sein.
Ergebnis
Ein Asylantrag an sich würde deshalb im Moment tatsächlich nur dann Sinn machen, wenn man sicher wäre, dass individuelle Verfolgungsgründe nachweisbar vorliegen. Selbst dann ist im Moment nicht absehbar, wann das BAMF hierzu tatsächlich entscheidet.
Im Kontext der Fragestellung dieses Beitrages würde sich nur dann tatsächlich durch Stellung eines Asylantrages eine spätere Verbesserung der Situation ergeben.
Mit einem Subsidiären Schutz oder einem Abschiebungsverbot verbessert sich die Lage nicht nur bezogen auf den Familiennachzug nicht, sondern verschlechtert sich sogar unter Umständen an anderen Stellen.
Ausweg: Warten. Und Vertrauen.
- Ein Asylantrag zerstört derzeit eine gesicherte und gute Aufenthaltsbasis mit einer ebensolchen Aufenthaltserlaubnis.
- Eine Verbesserung würde sich rein rechtlich nur mit Anerkennung als Flüchtling einstellen.
- Wann überhaupt wieder über Asylanträge vom BAMF entschieden wird, ist völlig offen, weil es an einem Lagebericht des Auswärtigen Amtes hängt, dessen Erstellung noch völlig offen ist.
- Mit subsidiärem Schutz – so er denn überhaupt erteilt wird – wäre wenig gewonnen, mit einem Abschiebeverbot nichts.
- Zudem hängen im Moment alle Nachzüge an einer Visaerteilung, die derzeit nur für Menschen mit subsidiärem Schutz in Islamabad und Neu-Delhi geregelt ist. Keine andere Botschaft darf solche Anträge im Moment annehmen.
Deshalb bleibt nur Warten und Vertrauen. Mit einer Chance
So schwer es fällt, nach all dem Erlebten: Der aktuell beste Weg bleibt leider das Warten und Vertrauen auf Zusagen der Bundesregierung.
Hilfreich in diesem Kontext ist dazu ein Beschluss des Verwaltungsgerichtes Berlin, das grundsätzlich für Klagen und Eilanträge gegen das Auswärtige Amt zuständig ist:
Wir hatten diesen Beschluss als zunächst wenig hilfreich dargestellt, weil zum Zeitpunkt des Beschlusses wenig inhaltliche Aussagen getroffen wurden, die Ortskräften eine neue oder andere Perspektive geöffnet haben oder hätten. Daran hat sich auch nichts geändert.
Im Kontext des Familiennachzuges für Ortskräfte mit einem Visum bzw. einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 AufenthG ist der Beschluss dennoch höchst interessant:
Das der Antragsgegnerin (hier: Auswärtiges Amt) durch § 22 AufenthG grundsätzlich eröffnete Ermessen sei hier infolge der Selbstbindung der Verwaltung auf Null reduziert. Denn anders als die Antragsgegnerin meine, handele es sich vorliegend nicht um beliebige afghanische Staatsangehörige, sondern um eine Ortskraft und dessen Familie.
VG Berlin
……
Auch die Volljährigkeit zwei seiner Kinder stehe deren Aufnahmeanspruch nicht entgegen. Denn auch insoweit habe der Bundesentwicklungsminister öffentlich erklärt, die gegenteilige Aufnahmepraxis, die volljährige Kinder von Ortskräften bislang unberücksichtigt ließ, zu ändern. Das reiche angesichts der außergewöhnlichen Umstände aus.
Quintessenz: Aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung reduziert sich das Ermessen bei der Entscheidung zur Aufnahme von Ortskräften nach diesem Beschluss auf Null. Zudem wäre nach Ansicht des Gerichtes durch die offiziellen Aussagen der Bundesregierung auch die Aufnahme volljähriger Kinder damit für Ortskräfte abgesichert. Zu beachten ist allerdings, dass es sich hier nicht um eine höchstrichterliches Rechtsprechung handelt.
In jedem Fall gibt es bisher zahlreiche und immer wiederholte Aussagen der Bundesregierung bzw. der jeweils zuständigen Bundesministerien zur umfassenden Aufnahme von Ortskräften und deren Familien.
Konkrete Aussagen zu der bei unserem Fall beschriebenen Konstellation hingegen gibt es bisher leider nicht.
Zusammenfassung
Unter dem Eindruck der obigen Ausführungen halten wir es dennoch in den meisten Fällen für sinnvoll, die Aufenthaltserlaubnis nach § 22 AufenthG nicht zu gefährden und nicht ins Asylverfahren zu gehen.
Unabhängig von der Frage, mit welchem Ergebnis man aus dem Asylverfahren gehen würde, spielt zudem einerseits die Zeitfrage eine wesentliche Rolle und andererseits die aus unserer Sicht nicht kleineren Chancen, trotz unklarer Gesetzeslage darauf zu setzen, dass § 29 Abs. 3 AufenthG im Kontext von Menschen, die über § 22 AufenthG in Deutschland aufgenommen wurden, keine Wirkung entfaltet und schlicht nicht angewendet wird, da sich alle Aussagen dazu bisher auf die Aufnahme der Ortskräfte mit ihren Familien beziehen.
Sicher wäre in diesem Kontext dann erst einmal „nur“ die Kernfamilie. Junge volljährige Kinder, deren Aufnahme nach § 36 AufenthG nur bei einer „außergewöhnlichen Härte“ möglich wäre und sich hieran auch bei Stellung eines Asylantrages nichts ändern würde, müßten hoffen, dass die Bundesregierung hier zu weitgehenden Ausnahmen bereit ist und die öffentlichen Zusagen auch einhält.
Ansonsten bliebe noch der Weg über das Verwaltungsgericht Berlin unter Berufung auf die o.g. Entscheidung und deren weitgehender Auslegung.
Berlin hilft
Christian Lüder
07.09.2021