Fakten statt Parolen: “300.000 vollziehbar ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber” – Jahre alte oft widerlegte populistische Behauptung

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Eine nahezu täglich erzählte Story zwischen Realität und Fake ist die von den 300.000 ausreisepflichtigen abgelehnten Asylbewerbern, die morgen Deutschland verlassen müssten, es aber nicht tun. Dies soll Beleg für Asylmissbrauch sein und Beleg dafür, dass man mit viel mehr Abschiebungen viel erreichen könne. Nun: Parolen sind kurz und schnell, die Realität komplexer. 

Es ist natürlich richtig, dass man nach einem rechtskräftig abgelehnten Asylantrag vollziehbar ausreisepflichtig ist. Man ist dies allerdings auch dann, wenn das Visum für Urlaub oder Geschäftsreise oder die einmal erteilte Aufenthaltserlaubnis abgelaufen sind.  

Daneben gibt es jedoch Gründe, warum Deutschland von manchen Menschen nicht verlangen kann, will oder darf, dass sie ausreisen bzw. abgeschoben werden. Diese Menschen haben eine Duldung, also eine „Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“. 

Näheres zur Duldung

Die Gründe für eine Duldung sind vielfältig und umfassen manchmal eine Woche, manchmal mehrere Jahre. Auf manche dieser Duldungen gibt es einen Erteilungsanspruch, bei der überwiegenden Zahl sind es Ermessensentscheidungen der jeweiligen Ausländerbehörde. 

Ist eine Duldung erteilt oder hat man einen Anspruch darauf, kann nicht abgeschoben werden. Diese Menschen bleiben zwar formell „vollziehbar ausreiseplfichtig“, aber genau dies kann oder darf nicht vollzogen werden, denn: Solange der Duldungsgrund besteht, kann weder abgeschoben noch die Ausreise verlangt werden. 

Ein schlauer Mensch hat irgendwann mal errechnet, dass es über 70 Varianten der Duldung geben soll. Unterteilt werden diese Gründe nach denen, die rechtlicher Natur sind und jenen aus tatsächlichen Gründen. 

Öffentlich diskutiert wird ausschließlich über die rechtlichen Gründe. Dies sind beispielsweise Staaten, die sich weigern, Menschen wegen tatsächlich oder nur angeblich unklarer Identität zurückzunehmen. Auch fehlende Papiere gehören dazu. Und ebenso gibt es Länder wie Syrien, Afghanistan und Iran, bei denen es Beschlüsse der Ministerpräsidenten gibt, dass dorthin gar nicht abgeschoben werden darf, weil die Lage in diesen Ländern dies humanitär nicht zulässt. 

Die tatsächlichen Gründe sind weitaus vielfältiger: Krankheit, Schwangerschaft, Berufsausbildung, Beschäftigung, Kinder kurz vor Schulabschluss, Betreuung kranker Familienangehöriger oder gestellter Folgeantrag sind z.B. solche Gründe. 

Die öffentlich immer wieder propagierte These, dass man Menschen nicht abschieben könne, weil sie ihre Papiere weggeworfen haben und deshalb geduldet werden müssten, hat inzwischen einen eigenen – schlechter gestellten – Duldungsgrund nach § 60b AufenthG für Menschen mit ungeklärter Identität. Man kann also relativ gut ermitteln, warum genau aus diesem Grund weder Ausreise noch Abschiebung möglich sind. Eine Duldung nach § 60b AufenthG haben 19.358 Menschen (31.08.2023).

Mit wenigen Ausnahmen sind also Duldungen nicht quasi von Betroffenen „erzwungene“ Entscheidungen, sondern haben ihre Rechtfertigung durch Gründe, deren Bestand und Erheblichkeit eine Ausländerbehörde auch geprüft und festgestellt hat. 

Wenn es also um die Zahl der tatsächlich vollziehbar Ausreisepflichtigen geht, ist es völlig richtig, Menschen mit Duldung von dieser Zahl abzuziehen und und offensichtlich falsch, genau dies nicht zu tun. 

Zu den Zahlen per 31.08.2023

Vollziehbar Ausreisepflichtige 261.925

Davon mit Duldung 210.528

Vollziehbar ausreisepflichtig ohne Duldung   51.397

Quelle: Plenarprotokoll Bundestag 20/124 Frage 24 Clara Anne Bünger, Die Linke

Duldungen nach § 60b, also mit „ungeklärter Identität“, sind von den o.g. rd. 210.000 übrigens knapp 19.358 Personen. Dieser – öffentlich immer in den Vordergrund gestellte – Grund sind tatsächlich also nicht einmal 10% aller Menschen mit Duldung

Auf den ersten Blick wäre also die richtige Zahl derer, die tatsächlich morgen ausreisen oder abgeschoben werden müßten, diese 51.397. 

Daraus ergibt sich jedoch schon eine in der Diskussion wichtige Frage: 

Wie viele der vollziehbar Ausreisepflichtigen kommt aus einem rechtskräftig negativ abgeschlossenen Asylverfahren?

Da es in der öffentlichen Diskussion ja aber immer um irreguläre Migration und Menschen im Asylverfahren geht, muss man auch hier differenzieren. Da diese Daten nicht immer abgefragt werden, müssen wir hier auf die Zahlen per 30.06.2023 zurückgreifen:

Abgelehnte Asylbewerber unter vollziehbar Ausreisepflichtigen per 30.06.2023

Vollziehbar ausreisepflichtig insgesamt 279.098

Davon mit abgelehntem Asylantrag 142.035

Davon ohne Duldung   13.784

Quelle: BT-DRS 20/8046 Antwort der Bundesregierung auf kleine Anfrage Die Linke

Bedeutet: Von allen vollziehbar Ausreisepflichtigen sind nur rd. 50% überhaupt abgelehnte Asylbewerber. Die anderen rd. 50% sind mit einem völlig anderen Hintergrund vollziehbar ausreiseplfichtig. Ob dies nun Menschen aus Kanada oder China mit abgelaufenem Besuchsvisum sind, ausreisepflichtige EU-Bürger (ja, auch das gibt es) oder Studierende oder Fachkräfte, deren Erlaubnis abgelaufen ist, lässt sich aus den Angaben der Bundesregierung nicht ermitteln, spielt letztlich aber auch keine Rolle, wenn es um die Verwendung dieser Zahlen in der öffentlichen Diskussion geht. 

Statt also der Parole: „300.000, die unser Asylrecht mißbrauchen, müssen ausreisen oder abgeschoben werden“, sind wir per 30.06.2023 real bei 13.784 Menschen, die tatsächlich vollziehbar ausreisepflichtig und ohne Duldung sind UND aus einem rechtskräftig abgeschlossenen ablehnenden Asylverfahren kommen. 

13.784 ist also die Zahl, die tatsächlich verwendet werden müßte, wenn es um tatsächliche oder angebliche Vollzugsdefizite ginge, die derzeit so ausufernd diskutiert werden. (Stand 30.06.2023).

Zahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen sinkt in 2023

Dazu ist noch sehr deutlich auffällig, dass die Zahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen seit Anfang 2023 deutlich zurückgeht: 

31.12.2022 304.308

30.06.2023 279.098

30.08.2023 261.925

Insgesamt sank also die Zahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen um 42.383 im Laufe des Jahres 2023.  

Ein Grund dafür ist die Einführung des sog. Chancenaufenthaltes nach § 104c AufenthG. Danach können Geduldete, die sich am Stichtag 31.10.2022 seit über fünf Jahren in Deutschland gestattet, mit Erlaubnis oder Duldung aufhalten und nun nur noch geduldet sind, eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, die später unter Erfüllung weiterer Voraussetzungen, insbesondere der Lebensunterhaltssicherung, in eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis führen kann. Da es sich um eine Stichtagsregelung (31.10.2022) handelt und nur die Menschen betrifft, die zu diesem Zeitpunkt bereits fünf jähre in Deutschland waren, kann es im übrigen auch per se kein „pull-Faktor“ sein. 

Damit sollte aufgelöst werden, dass zum 30.06.2023 immer noch rd. 111.000 Menschen mit einer Duldung in Deutschland leben, die sich mehr als fünf Jahre in Deutschland aufhalten. Es sind auch immer noch rd. 40.000 Menschen, die dies seit acht Jahren und mehr tun.

Diese hohen Zahlen zeigen auch, dass Duldungsgründe eben nicht immer nur für zwei Wochen ausgestellt werden, sondern in sehr vielen Fällen zu jahrelangen Kettenduldungen führen, wo regelmäßig Duldungen verlängert werden. 

Abschiebungen und freiwillige Ausreisen

Wenn wir schon beim Thema vollziehbar ausreiseplfichtig sind, macht es auch Sinn, sich einmal anzuschauen, wie viele Menschen tatsächlich Deutschland auch wieder verlassen. Es ist auch hier nämlich nicht so, das “alle bleiben” und den “Rechtsstaat aushebeln” oder “geltendes Recht nicht durchgesetzt werden kann”.

Dazu wir einmal die Zusammenstellung per 30.06.2023 mit linearer Hochrechnung zum 31.12.2023 der erfolgten Abschiebungen und der unterschiedlichen freiwilligen Ausreisen:

Dazu noch die folgenden Anmerkungen:

  1. Die Zahl der Abschiebungen ist damit im Vergleich zu 2022 um rd. 27% gestiegen.
  2. Abschiebungen sind erkennbar nur ein kleinerer Teil der Menschen, die Deutschland wieder verlassen.
  3. Bei den freiwilligen Ausreisen ist dies die unterste Zahl. Grund: Erfasst sind hier nur die Menschen, die bei der Ausreise aus Deutschland tatsächlich eine Grenzübertrittbescheinigungo.ä. bei der Bundespolizei abgeben. Real ist diese Zahl also vermutlich deutlich höher.
  4. Es gibt in 2023 – bei aller Ungewissheit aufgrund der Hochrechnung – eine Steigerung von rd. 20% in diesem Jahr
  5. Die grundsätzliche Frage danach ist: Was bringt die (seit Jahren) mit großer Heftigkeit geführte Diskussion um die zu gernige Zahl von Abschiebungen tatsächlich für die Situation hier und heute in Deutschland?

Setzt man also die Zahl der vollziehbar Ausreiseplfichtigen mit oder ohne Duldung und mit oder ohne abgelehntes Asylverfahren in Beziehung zu den erfolgten Ausreisen und Abschiebungen, relativiert dies die immer wieder aufgemachten Forderungen und Behauptungen noch einmal deutlich.

Dazu muss man festhalten, dass das Ausländerzentralregister (AZR) nicht durchgängig konsistente Daten liefert. Beispielsweise wird der Umstand, dass jemand aus einem Asylverfahren kommt quasi lebenslang gespeichert. So sind hier auch immer noch als abgelehnte Asylbewerber Menschen registriert, die jetzt aufgrund zwischenzeitlich erfolgter EU-Beitritte ihrer Herkunftsländer wie Polen als EU-BürgerInnen in Deutschland leben.

Fazit

  1. Statt „300.000 ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber“ müßte es heißen „13.784 ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber ohne Duldung“. Klingt natürlich deutlich weniger spektakulär. 
  2. Es ist schon lange so, dass unter den vollziehbar Ausreisepflichtigen nur rd. 50% aus dem Asylverfahren kommen, das negativ für sie ausging. Siehe hierzu auch unseren Beitrag dazu aus 2019 mit den Zahlen von 2018, der sich ähnlich wie hier mit der gleichen falschen Aussage vor 4 Jahren beschäftigte
  3. Die Zahl der Geduldeten, die dies wegen nicht vorhandener Pässe etc. sind, ist wesentlich geringer als gemeinhin behauptet wird
  4. Duldungen laufen in einer extrem großen Zahl jahrelang. % oder 8 oder sogar 10 Jahre mit Duldungen sind keine Seltenheit. 
  5. Der Chancenaufenthalt hat die Zahl langjährig Geduldeter reduziert. Dabei profitiert aber eben auch nur die Zielgruppe des Gesetzes mit 5 und mehr Jahren Aufenthalt in Deutschland. 
  6. Es ist nie gut, wenn die Politik Falsches behauptet. Es ist noch dümmer, wenn dies seit Jahren immer wieder gleich aufs Neue geschieht. 

5 Gedanken zu „Fakten statt Parolen: “300.000 vollziehbar ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber” – Jahre alte oft widerlegte populistische Behauptung“

  1. Behauptung ist falsch. Hätten die abgelehnten keine Duldung, müssten sie mit einer GÜB rumrennen, die es nur aufn Blatt Papier gibt. Die Duldung als offizielles Dokument erlischt erst mit Bekanntgabe des Abschiebungstermins seitens der Behörde. Würde jeder verpflichtete gehen, müsste keine Duldung ausgestellt werden. Natürlich sind die daher in die Statistik aufzuführen, denn die Ausreisepflicht besteht ja weiterhin – Duldung hin oder her-, nicht nur bei jenen ohne Duldung (die bspw. kurz davor stehen und sie mangels Terminvergabe noch nicht ausgehändigt bekommen konnten). Auch hindert die Aufnahme des Heimatstaates einen nicht daran, an sich D zu verlassen. Er kann ja woanders hin ausreisen. Das obliegt immer noch dem Ausreisepflichtigen – ob er jetzt seine Identität klärt oder nicht. Das eine hat mit dem anderen ja nix zu tun. Es werden ja auch Ausländer ermittelt, die eben nicht ihre wahre ID offen legen. Und natürlich ist die Duldung eine vom Ausländer “erzwungene Entscheidung”. Die Ermittlung seiner ID ist nicht Aufgabe Staates, bei dem das Asylverfahren oder der Aufenthalt vorab bestand, sondern liegt immer im Bereich des Ausländers, der ja illegal das Bundesgebiet betrat und im weiteren Verlauf seine Mitwirkung an der Offenlegung seiner ID nicht nachkam bzw. weiterhin verweigerte.

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    • Welche Behauptung konkret ist denn bitte falsch? Duldungen werden in den geringsten Fällen wegen ungeklärter Identität ausgestellt, denn dafür gibt es die Duldungen nach § 60b AufenthG. Wenn nach Ihrer Theorie ja nur ungeklärte Identitäten ohne Pass Duldungen erhalten, erübrigt sich auch eine Ausreise, denn weder der eigentliche Herkunfstsaat nimmt ohne Papiere auf und erst recht nicht ein dritter Staat. Die Aussage, dass eine Duldung eine “vom Ausländer erzwungene Entscheidung” sei, ist jedoch nachweislich komplett falsch. Die Statistiken belegen das in keiner Weise, sondern lassen im Gegenteil die unterschiedlichen Duldungsgründe erkennen. Und auch falsch ist, dass “der Ausländer” illegal Deutschland betrat. Wir reden bei Geduldeten 1. nur zu rd. 50% von “ehemaligen” Asylbewerbern. Und deren Anwesenheit in D ist selbst bei Einreise ohne Visum legal (siehe Art. 31 GFK). Die anderen 50% betreffen menschen mit abgelaufenen Bisa o.ä., die erst recht nicht “illegal” eingereist sind.

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