.
Beim sog. Asylkompromiss 1993 wurde das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) eingeführt. Es machte genau das, was heute wieder gefordert wird: Generelle Leistungskürzungen für Menschen im Asylverfahren (und danach) und Sachleistungen statt Bargeld. Es gibt also 30 Jahre praktische Erfahrung mit dem Thema Sachleistungen. Haben die zu etwas geführt? Offenbar nein.
Die Ausgangslage war 1993 dennoch der heute recht ähnlich. Die Asylzahlen lagen bei rd. 440.000 Anträgen, im Jahr davor bei rd. 250.000. Hinzu kamen jedoch auch noch eine große Zahl von Spätaussiedlern, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion oder anderen Staaten des nun offenen Ostblocks, vor allem Polen und Rumänien.
Im Ergebnis kamen in den Jahren 1988 bis 1995 zwischen 300.000 und fast 700.000 Menschen nach Deutschland – jedes Jahr. Im Schnitt also rd. 480.000 Menschen pro Jahr über diesen Zeitraum von 8 Jahren.
Vielleicht macht es Sinn, sich daran einmal zu erinnern und zu fragen, ob wir daran wirklich gescheitert sind, wie es nun jetzt die Erzählung ist.
Aber zurück zum Thema Sachleistungen:
Im Asylkompromiss 1993 und insbesondere mit der Einführung des AsylbLG wollte man zwei wesentliche Ziele erreichen, die dazu führen sollten, dass weniger Menschen nach Deutschland kommen.
- Verringerte Leistungen für Asylbewerber als Abschreckung
- Sachleistungen statt Bargeld – ebenso zur Abschreckung
Ohne nun auf alle Änderungen und deren Gründe im Detail einzugehen, kann man dazu jedoch festhalten, dass das AsylbLG schon 1999 korrigiert wurde und auch wieder Bargeldzahlungen ermöglichte.
Wesentlicher Gründe waren (und sind):
- Erheblich höhere Kosten für Sachleistungen, die Kommunen erbringen müssen
- Erheblich höhere Kosten und Personalaufwand bei den Leistungsträgern durch Sachleistungen
- Gerichtliche Einschränkungen des Sachleistungsprinzips
Dies führte und führt dazu, dass bundesweit sehr verbreitet weiterhin Geldleistungen ausgezahlt werden. Zu den erheblich höheren Kosten u.ä. siehe unten). Eine Auswertung vom Flüchtlingsrat Berlin erbrachte 2013 folgendes Bild:
Dennoch taucht das Sachleistungsprinzip alle paar Jahre als der vermeintlich sichere Heilsbringer auf, der zur Verringerung der Flüchtlingszahlen beitragen würde und zudem ein (angeblicher) Pullfaktor sei.
Warum man danach so laut schreit, bliebt im Unklaren, jedenfalls bei denen, die nicht komplett ahnungslos durch die Migrationspolitik laufen: Sachleistungen sind bis heute nach AsylbLG möglich und werden auch weitgehend erbracht. Wer sich die gesetzliche Regelung anschauen möchte: § 3 AsylbLG.
Zur Kritik im Grundsatz am AsylbLG möchten wir auf diesen auch von uns unterzeichneten Appell vom Mai dieses Jahres erinnern:
Systematik von Sach- und Geldleistungen
Leistungen nach AsylbLG sind in zwei Teile unterteilt. Einerseits der sog. notwendige Bedarf und andererseits der sog. notwendige persönliche Bedarf.
Asylbewerber in sog. Aufnahmeeinrichtungen erhalten grundsätzlich Sachleistungen für den sog. „notwendigen Bedarf“, also landläufig als Bett/Brot/Seife dargestellt und zu Recht entsprechend verschrieen. Bar ausgezahlt wird nur der sog. „notwendige persönliche Bedarf“, und auch dieser in vielen Fällen nicht voll.
Der „notwendige persönliche Bedarf“ beträgt derzeit für Alleinstehende max. 182€ pro Monat. Oftmals wird dieser Betrag noch gekürzt, z.B. um den Anteil „Verkehr“, wenn Monatskarten o.ä. als Sachleistung ausgegeben werden.
Der „notwendige persönliche Bedarf“ setzt sich dabei aus den folgenden Gruppen zusammen:
Abt. 7: Verkehr
Abt. 8: Nachrichtenübermittlung
Abt. 9: Freizeit, Unterhaltung, Kultur
Abt. 11: Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen
Abt. 12: Andere Waren und Dienstleistungen (einschließlich Körperpflege).
Dazu ein kurzer Exkurs zur Höhe bzw. Berechnung. Die Leistungen nach AsylbLG werden im Grunde analog zu Bürgergeld/ALG2 berechnet. Der grundsätzliche Unterschied von rd. 100€ pro Monat bei Alleinstehenden ergibt sich durch das Weglassen bestimmter Kosten-Gruppen (Abteilungen), die tatsächlich oder vermeintlich bei Beziehern von Leistungen nach AsylbLG nicht anfallen oder nicht nötig sein sollen. Zur Höhe und Berechnung der Leistungen im AsylbLG gibt es eine sehr ausführliche Ausarbeitung von Pro Asyl und Flüchtlingsrat Berlin.
Dass man Leistungen für Asylbewerber nicht willkürlich herunterkürzen darf und sie vor allem auch nicht nach migrationspolitischen Erwägungen staffeln darf, ergibt sich im Grunde bei existenzsichernden Leistungen bei kurzem Nachdenken zwar schon von selbst, aber wurde insbesondere 2012 in einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts dargelegt und festgestellt.
Wer sich für die weiteren Details dazu interessiert, dem seien dazu zwei Abhandlungen des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages empfohlen:
Die Ausarbeitung geht einerseits auf das BVerfG-Urteil von 2012 ein und daneben auch auf das Sachleistungsprinzip, dessen Voraussetzungen und Grenzen. Die Ausarbeitung ist zwar „schon“ von 2015, aber schafft dennoch einen guten Überblick, warum das AsylbLG 2015 aufgrund dieses Urteils neu gefasst werden musste.
Update: In einem Beitrag vom 11.10.2023 auf dem Verfassungsblog hat Rosa-Lena Lauterbach auch sehr grundsätzlich zum “Taschenspielertrick” der Sach- und Geldleistungen Stellung genommen:
Geldleistungen durch Sachleistungen ersetzen
Die Forderung ist nun, den bisher weit überwiegend bar ausgezahlten Betrag auch durch Sachleistungen zu erbringen. Neben den schon im Urteil des BVerfG von 2012 dargelegten Grundsätzen und Begrenzungen dazu, gibt es dazu eine weitere Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes von 2017 zu Geldleistungen, wozu auch Chipkarten gehören, die gerade von der CSU gefordert werden:
Im übrigen besteht das grundsätzliche Problem mit Sachleistungen auch für den persönlichen. Bedarf insbesondere darin, dass man diese Positionen kaum durch Gutscheine oder Chipkarten ersetzen kann. Einerseits gibt es rein praktische Gründe, denn nie hat jede Gaststätte, jeder Telefonanbieter, jedes Kino usw. Lust oder Möglichkeit, eine gerade erfundene Chipkarte oder Gutscheine anehmen zu wollen oder zu können. Und andererseits kann man Leistungsbezieher auch nicht komplett entrechten und ihnen vorschreiben, in welches Kino, bei welchem Telefonanbieter usw. sie zu buchen haben.
Dazu sind die einzelnen Leistungsbeträge so ausdifferenziert, dass dies nicht über staatlich organisierte Sachleistungen erbringbar ist. Zudem kann man das menschliche Selbstbestimmungsrecht nicht komplett aushebeln und im Detail vorschreiben, wie das sog. „Taschengeld“ tatsächlich ausgegeben wird. Es muss Betroffenen auch überlassen bleiben, ob sie nun genau das Geld für Pos. X ausgeben wollen oder lieber mehr für Y, weil ihnen selbst dies wichtiger ist als X.
Zu den Problemen von Kommunen mit der Frage Sachleistung statt Geldleistung möchten wir an eine sehr detaillierte Stellungnahme der Stadt Detmold verweisen, die diese zu diesem Thema im Landtag von Nordrhein-Westfalen zu einem AfD-Antrag abgegeben hat.
Dieser Antrag forderte genau diese Umstellung von Geld- auf Sachleistungen und ist von allen anderen Parteien Ende April 2020 im Landtag, inklusive der CDU und der FDP, abgelehnt worden.
Sachlicher Grund: Sachleistungen kosten ein Vielfaches
Es ist ja hinreichend bekannt, dass derzeit erhebliche Schwierigkeiten der Städte, Gemeinden und Kommunen bestehen, genug finanzielle Mittel zu erhalten, um die staatlich notwendigen Aufgaben wahrnehmen zu können. Nicht ohne Grund gab es im Mai 2023 einen Flüchtlingsgipfel zwischen Bund und Ländern, der in Kürze eine Neuauflage erfährt.
Die Idee, die Kosten dann durch erheblich erhöhte Aufwendungen für Sachleistungen noch weiter in die Höhe zu treiben, ist deshalb schon absurd.
Ein gutes Beispiel für die Vervielfachung der Kosten ist der Ersatz von selbst zubereitetem Essen durch Catering:
Das schon systemisch schlechte Essen und die schlechte Versorgung in Aufnahmeeinrichungen ist vielleicht von den Sachleistungsprotagonisten auch genau so gewollt, aber real ist es schlicht unmöglich, ein bis zwei unterschiedliche Essen mittags gleichermaßen köstlich für 30 Nationen von drei Kontinenten anzubieten. Wer das nicht glaubt, kann gerne beim nächsten Restaurantbesuch mit 4-6 Personen den Selbsttest wagen, sich auf ein Gericht zu einigen.
Daneben fallen wegen zwangsweise fester Essenszeiten für Frühstück, Mittagessen und Abendessen für Manche schlicht mal ein bis zwei Mahlzeiten aus oder werden dann durch 3x Brot mit welligem Käse ersetzt. Menschen sind eben schlicht nicht immer dann da, wenn der Staat es will, unter anderem deshalb, weil er gleiche Staat sie zu Behördenterminen nötigt, die stundenlang dauern und nicht essenkompatibel sind.
Dazu dann eine einfache Rechnung:
Der Essensanteil im AsylbLG bei einem Alleinstehenden beträgt derzeit 150,93€ mtl., also rd. 5€ pro Tag für drei Mahlzeiten sowie Getränke für den ganzen Tag. Für Menschen in Familien liegt der Essensanteil zwischen rd. 3€ und rd. 4,50€ pro Tag.
Catering in diesem Umfang kostet nach unseren Erfahrungen zwischen 12 und 15€ pro Tag, also bis zum 5-fachen der Kosten bei Selbstversorgung. Hinzu kommen noch Personal und damit Kosten für Lagerung, Vorbereitung, ggfls. Zubereitung und Ausgabe, danach Kosten für Geschirr und Spülen. Real liegt man dann vermutlich eher bei 20-25€ pro Tag und Person.
Es gibt also genug Gründe, warum die gesetzlich mögliche Ausgabe von Sachleistungen statt Bargeld von den Kommunen gar nicht genutzt oder versucht wird, den Aufenthalt in Aufnahmeeeinrichtungen so schnell wie möglich und zulässig zu beenden.
Letzte „Hoffnung“ der Protagonisten: Sozialleistungen sind Pullfaktor?
Bleibt als Argument sonst nichts übrig, werden Sozialleistungen egal welcher Art ja inzwischen entweder als Motivation zur selbst verursachten Arbeitsaufgabe oder hier beim AsylbLG als sog. Pullfaktor bezeichnet.
Kurzfassung: Nein, sind sie nicht. Es ist auch müßig, dies immer wieder neu ausführlich zu erläutern. Deshalb dazu ein paar zusammenfassende Darstellungen:
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/migration-push-pull-faktoren-101.html
https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-fluechtlinge-sozialleistungen-1.5672315
Fazit
Die Umstellung auf Sach- statt Geldleistungen hat real die folgenden Probleme und auch Grenzen:
- Man kann nicht komplett auf Bargeld verzichten, weil sich manche Bereiche der Leistungen gar nicht durch Sachleistungen organisieren lassen.
- Man kann dies auch deshalb nicht, weil das Recht auf Selbstbestimmung und die Persönlichkeitsrechte der betroffenen nicht komplett eingeschränkt werden dürfen.
- Der organisatorische Aufwand für die Leistungsbehörden ist immens
- Die Bargeldauszahlung müßte ja auch bei geringeren Auszahlungsbeträgen dennoch weiter stattfinden
- Der Kostenaufwand für die Leistungsbehörden ist bei einem Vielfachen
- Zudem ist der personelle Aufwand bei Leistungsbehörden erheblich
- Für einen sog. „pull-Faktor“ bei maximalen Bar-Leistungen für Menschen in Aufnahmeeinrichtungen von 90 bis 180 gibt es keinerlei Beleg
- Das von denjenigen, die diesen Aufwand dennoch betreiben wollen, propagierte Ziel, dass weniger Menschen nach Deutschland kommen oder früher wieder gehen, ist sowohl komplett unbelegt wie auch komplett unwahrscheinlich