Seit 2017 wird in Deutschland über eine sog. „Obergrenze“ diskutiert. Eigentlich war diese „Obergrenze“ zu recht schon länger politisch beerdigt, weil sie weder rechtlich noch in der Umsetzung Sinn macht. Dennoch taucht der Begriff, teilweise nun in leicht umgestalteter Form, wieder auf.
Zuletzt und besonders regelmäßig sprach Markus Söder, CSU, davon. Während er zunächst noch von „Obergrenze“ und nun von „Integrationsgrenze“ spricht, nennt es Alexander Dobrindt, CSU, „Belastungsgrenze“. In jedem Fall schloss sich Friedrich Merz, CDU, der Forderung an, egal mit welchem Namen.
Wer sich ein wenig auskennt, weiss schon lange, dass eine „Obergrenze“ rechtlich gar nicht möglich ist. Das wissen auch all jene, die sie fordern nur zu gut.
Neben den Menschen, die durch das Asylverfahren laufen müssen und Gegenstand der tagtäglichen Diskussionen sind, sind bekanntermaßen seit Ende Februar 2022 auch noch über eine Mio. Geflüchtete aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, die man natürlich genau genommen in „Belastungs-, Integrations- oder Obergrenzen“ immer mit einbeziehen müsste, die jedoch von all jenen, die solche Forderungen aufstellen, komplett aus der Diskussion gehalten werden.
Damit man die Zahlen der Geflüchteten aus der Ukraine auch besser einordnen kann, gibt es hier einen kurzen Überblick:
Wenn man also eine ernsthafte Diskussion über irgendwelche „Obergrenzen“ führen wollte, hätte man dies ca. Mitte März 2022 bereits beginnen müssen. Real begannen alle wesentlichen Diskussionen jedoch erst ab ca. September 2022, zu einem Zeitpunkt also, als schon weit mehr als 1 Mio Geflüchtete nach Deutschland gekommen waren.
Nun gut, schauen wir uns die Realität mal an, die sich auf Basis der real geführten Forderungen nach „Grenzen“ ergeben würden, wenn man die Zahlen dazu berechnet:
Vorbemerkungen
- Es ist unbestreitbar, dass die Geflüchteten, die 2022 und 2023 gekommen sind, die Kommunen und Städte in Deutschland an Grenzen der Unterbringung geführt haben. Gleiches gilt – vielfach im Grunde auch schon ohne jeden neu Geflüchteten – für Wohnraum, Kita-Plätze, Schulplätze, medizinisch-psychologische Versorgung und noch viele andere Bereiche.
- Bei der politischen Diskussion über Geflüchtete geht es ausschließlich um Asylsuchende, also Menschen, die in Deutschland ein Asylverfahren durchlaufen müssen, bevor sie einen Schutzstatus oder eine Ablehnung bekommen. Dies ist jedoch bezogen auf alle Geflüchteten, die 2022 und 2023 in Deutschland ankamen, nur der deutlich geringere Teil (s.o.). Politisch aus jeder Betrachtung gelassen werden die Geflüchteten aus der Ukraine, die auch – weil auf europäischer Ebene anders geregelt – durch kein Asylverfahren laufen müssen, sondern nahezu sofort eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommen.
- Für alle Ressourcen, die von den Ländern, Städten, Gemeinden und Kommunen vorgehalten werden müssen, ist es jedoch im Grunde egal, ob Geflüchtete aus x oder y kommen. Die Wohnung oder der Schulplatz fehlt ja für beide.
- Wir erleben also eine massive Verkürzung und Verschiebung der Diskussion hinsichtlich der „Kapazitäten“ etc. völlig weg von Geflüchteten aus der Ukraine, hin ausschließlich zu den Menschen, die durch das Asylverfahren gehen müssen.
„Obergrenze“ 2022
Wie erwähnt, fließen hier jetzt ausschließlich die Zahlen ein, die AsylantragstellerInnen betreffen.
Bei der Berechnung der „Obergrenze“ reicht es nicht aus, sich alleine die Zahl der Erstanträge o.ä. anzuschauen, weil es schon damals bei dieser Betrachtung letztlich darum ging, auf die Zahl der neu nach Deutschland gekommenen Menschen abzustellen, also die Zahl von Menschen, die dann neu zu integrieren wären. Insofern wurden auch seinerzeit bereits AntragstellerInnen, die schon in Deutschland waren oder hier geborene Kinder ebenso Ausgereiste und Abgeschobene heraus-, Menschen aus dem Familiennachzug oder Resettlement hingegen hinzugerechnet.
Die Berechnung an sich ist also schon komplizierter als alleine die Headline aus der Zeitung oder das Laufband im TV. Aber selbst diese Berechnung ist scheinbar für die PolitikerInnen, die die Obergrenze propagieren, schon nicht eingängig genug oder gar bekannt.
Hier zunächst die Berechnung für 2022:
Ergebnis
Die „Obergrenze“ von 180.000 bis 220.000 (so definiert im letzten Koalitionsvertrag CDU/CSU&SPD) ist also nach dieser Berechnung bei weitem nicht erreicht worden.
„Obergrenze“ 2023
Betrachten wir nun unter den gleichen Prämissen die Zahlen zu 2023. In der folgenden Tabelle sind – in fast allen Fällen ganz konkret ermittelbar – zunächst die Zahlen per 30.06.2023 dargestellt, die Dank einer der vielen detaillierten Nachfragen an die Bundesregierung durch die Fraktion Die Linke im Bundestag vorliegen. Da diese Zahlen in dieser Detaillieren „nur“ halbjährig abgefragt werden, sind die Zahlen auf den 31.08. und natürlich auch per 31.12.2023 linear hochgerechnet. Hier kann es natürlich Abweichungen geben, aber dennoch ist es interessant, ob die Behauptungen und Forderungen im August/September 2023 tatsächlich eine Basis haben, auf der sie diskutiert werden könnten oder was die realen Zahlen dazu aussagen.
Ergebnis
Wie zu erkennen ist, wird die „Obergrenze“ auch in 2023 eingehalten. Dies gilt natürlich unter der Einschränkung, dass es sich teilweise um lineare Hochrechnungen handeln muss, weil die konkreten Zahlen noch nicht vorliegen können oder offiziell nicht benannt wurden.
Fazit
- Weder 2022 wurde diese „Obergrenze“ gerissen noch wird sie dies voraussichtlich in 2023, und wenn doch, dann vermutlich nicht wesentlich.
- Eine echte Diskussion über Geflüchtete und auch deren Unterbringung und Integration bzw. die Schwierigkeiten damit wäre tatsächlich nur möglich, wenn man dabei nicht zwischen UkrainerInnen einerseits und allen anderen andererseits trennen würde.
- Real umsetzbar ist eine „Obergrenze“ ohnehin nicht. Da das bekannt ist, ist die Forderung danach nur rein populistisch. Nun das Ganze abzuschwächen und von „Integrationsgrenze“ zu sprechen, ist zwar ein Versuch, das zu relativieren, greift jedoch erst recht nicht, weil man ja unstreitig auch die Integration von knapp 1,1 Mio Menschen aus der Ukraine dabei einrechnen und berücksichtigen müsste.
- Eine ehrliche Diskussion würde sich vor allem mit dem Thema Infrastruktur, Integration, Kitas, Schulen usw. beschäftigen. Wir sind viel mehr gefordert, uns um die Menschen zu kümmern, die ohnehin schon hier sind und dies – über alle Geflüchteten gerechnet – zu mehr als 95% als in der einen oder anderen Weise anerkannte Geflüchtete.
Nachfrage zum Verständnis: Geben die “Dublin-Überstellungen” die Anzahl Menschen weiter, die tatsächlich in ein anderes EU-Land überstellt wurden (und somit nicht mehr in Deutschland sind) oder ist das die Zahl von Dublin-Verfahren?
Es sind tatsächlich erfolgte Überstellungen.