Flüchtlingsgipfel: Ergebnis auf verzerrten Fakten – Eine Klarstellung

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Gerade wurde der Flüchtlingsgipfel auf Bundesebene abgehalten und mit einem Minimalstergebnis beendet. Damit bleibt uns vermutlich den Rest des Jahres die Diskussion über Flucht und Migration alleine schon deshalb erhalten, weil es mit der Zusage von einmalig 1 Mrd. € keine tragfähige Finanzierung gibt.

Wichtiger wäre gewesen, das Thema endlich verbal zu entschärfen und die politische und mediale Diskussion wieder auf Fakten zurückzuführen. Stattdessen erleben wir schon seit Monaten, aber insbesondere in der letzten Zeit eine massive Verschärfung der Stimmung und der Positionen, die jedoch in vielen Fällen nicht wirklich von den Realitäten gedeckt wird. 

Sätze wie „Das Boot ist voll“, „300.000 Ausreisepflichtige werden nicht abgeschoben“, Die EU muss schon an der Außengrenze Asyl prüfen“ oder „Die illegale Migration muss eingedämmt werden“ tauchen nicht mehr nur aus dem konservativen und rechtsextremen Lager auf, sondern zunehmend auch aus Teilen der Ampel. Dabei sind die Fakten dahinter entweder ganz andere oder wesentlich diffiziler als sie in solche Parolen packen zu können. 

Dazu eine Analyse:

Flüchtlingszahlen 2022

Es ist natürlich unbestritten und unverkennbar, dass Deutschland im Jahr 2022 deutlich mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als 2015. Und ebenso ist klar, dass sich hieraus eine Vielzahl von Schwierigkeiten und Problemen ergeben haben und weiter werden. 

Hier erst einmal die Zahlen dazu: 

1.045.181 Geflüchtete aus der Ukraine
217.774 zzgl Erstanträge BAMF 
24.791 abzgl. Asylanträge in D geborene Kinder

1.238.164 Gesamt

Quelle: AZR/Mediendienste Integration/BAMF

Von 6 Geflüchteten kommen demnach 5 aus der Ukraine. Auffällig ist auch, dass wir eine erheblich zunehmende Diskussion über „irreguläre Migration“ erst seit ca. Oktober 2022 haben, als die Zahlen von Erstanträgen beim BAMF tatsächlich nach oben gingen. 

Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch schon fast 1 Mio Menschen aus der Ukraine in Deutschland, die bis dahin in Wahrnehmung und Diskussion kein Problem darstellten, obwohl es natürlich trotz eines anderen rechtlichen Hintergrundes im Wesentlichen die gleichen Probleme gab und gibt: Unterbringung, Kitas, Schulplätze, Wohnungen, soziale Sicherung etc. 

Wir haben demnach eine massive Diskursverschiebung und eine gewollte Trennung zwischen „guter“ Flucht aus der Ukraine und „schlechter“ aus allen anderen Ländern. In der Realität geht das jedoch am eigentlichen Problem vorbei, wenn es bei den eben genannten Themen völlig egal ist, ob jemand aus der Ukraine kommt oder aus Syrien. 

Wenn man denn schon tatsächlich eine Trennung zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und allen anderen Geflüchteten aufstellen möchte, sollte man das Beispiel Ukraine als Grundlage zum Umgang mit allen anderen nehmen. Exemplarisch benannt dazu: Private Unterbringung ist sofort möglich statt verpflichtender staatlicher Unterbringung. Sofortige Erwerbserlaubnis statt Arbeitsverbot oder nur Arbeiten mit Erlaubnisvorbehalt. 

„Irreguläre Migration“

Alleine der Begriff ist schon irreführend. Natürlich ist es „irregulär“, ohne Visum nach Deutschland einzureisen. Mit Äußerung eines Asylgesuches hält man sich hingegen wieder gestattet und damit rechtmäßig in Deutschland auf. 

Von den o.g. Erstanträgen in 2022 wurde die große Mehrzahl von Menschen aus Syrien, Afghanistan, Iran, Irak und der Türkei gestellt. Bei Syrien und Afghanistan. Liegt die Anerkennungsquote bei nahezu 100%. Insgesamt betrug die bereinigte Schutzquote (also nur inhaltliche Asylentscheidungen) in 2022 gut 72 %. Hinzu kommen noch ebenfalls in 2022 rd. 40.000 für die Kläger positive Gerichtsentscheidungen, mit denen ablehnende Bescheide des BAMF korrigiert wurden. 

Im Ergebnis bekommen also – anders als öffentlich wahrgenommen – weitaus mehr Menschen eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, die vermeintlich „irregulär oder auch illegal nach Deutschland kamen. 

Das BAMF hat in 2022 rd. 130.000 Asylbescheide erlassen, die mit einer Aufenthaltserlaubnis endeten. Hinzu kommen die rd. 40.000 Menschen, die diese nach entsprechenden Klagverfahren bekamen. Zusammen sind dies 170.000 Menschen im Vergleich zu rd. 190.000, die im letzten Jahr Erstanträge in Deutschland stellten. 

Dies relativiert die mit den Begriffen „irregulär“ und „illegal“ verbundenen Eindrücke deutlich. 

Obergrenze 2022

Die flüchtlingspolitisch „Älteren“ werden sich noch an die Diskussionen zur Obergrenze vom damaligen Innenminister Seehofer aus 2016 erinnern. 

Wir lehnen die inhaltliche Differenzierung zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und denen aus dem Rest der Welt ab. Aber wenn man diese Trennung tatsächlich einmal gedanklich vornimmt und deshalb bei der flüchtlingspolitischen Diskussion die Geflüchteten aus der Ukraine tatsächlich ausklammern würde, lohnt sich die Betrachtung, ob denn diese Obergrenze tatsächlich gerissen wurde, wie es auf den ersten Blick mit 217.000 Erstanträgen ja aussehen könnte. 

Die Berechnung, die man sich seinerzeit überlegt hat, fußte auf dem Gedanken, die tatsächliche Zahl von neu nach Deutschland gekommenen AsylantragstellerInnen zu ermitteln. Deshalb ist nicht alleine die Zahl von AntragstellerInnen wichtig, sondern auch die Zahl von Ausreisen, Abschiebungen und Aufnahmen. 

Wendet man diese Obergrenzen-Berechnung auf 2022 an, stellt man fest, dass besagte Obergrenze deutlich verfehlt wurde: 

Obergrenze 2022: 

217.774 Erstanträge

Abzgl.   24.791 in D geb Kinder
Abzgl   20.392 bereits bei Antragstellung in D aufhältig (mit AE oder Duldung)
Abzgl   12.945 Abschiebungen
Abzgl     4.158 Dublin-Überstellungen
Abzgl   26.545 freiwillige Ausreisen GÜB
Abzgl     7.877 geförderte Ausreisen REAG/GARP

141.458 Zwischensumme

Zzgl   19.680 Familiennachzug nach positivem Asylverfahren
Zzgl     3.000 Resettlement (geschätzt, Basis 2021)
Zzgl     4.657 Aufnahme AFG besonders Gefährdete (ca.)

168.403 Insgesamt 

Daraus ergeben sich zwei Gedankenstränge: 

  1. Wendet man diese Betrachtung unter „Weglassen“ von Geflüchteten aus der Ukraine an, hätten wir ja letztlich gar kein Problem, weil die Obergrenze ja deutlich verfehlt wäre.
  2. Bezöge man Geflüchtete aus der Ukraine mit ein, wäre diese „Obergrenze“ schon im März 2022 gerissen worden. Erkennbar spielte dies jedoch damals keinerlei Rolle. 

Wir erleben demnach leider eine politische und mediale Diskussion, die an der Realität komplett vorbei geht. Wie gesagt: Niemand bestreitet die massiven Probleme und Herausforderungen, die vor allem Länder und Kommunen mit der Organisation von Unterbringung, Versorgung und Integration von 1,2 Mio Menschen haben.

Es ist dabei jedoch weder inhaltlich richtig, Geflüchtete getrennt zu betrachten, noch dabei zu differenzieren, welche Menschen nun besser oder schlechter seien. Die Lernkurve, die man aus dem in vielerlei wesentlich besseren und einfacheren Umgang mit Menschen aus der Ukraine hätte haben können, zeigt nun seit Herbst wieder steil nach unten.

„Massive Zunahme der irregulären Migration 2023“

Diese oder ähnliche Headlines lesen wir gerade in diesen Tagen rauf und runter. Plus 78% heisst es da. Auch diese Aussage ist wieder nur bedingt richtig. 

Hier die Geflüchteten-Zahlen für 2023: 

Asylanträge 2023: 101.981 (Erstanträge)
Abzgl.           7.617 in D geborene Kinder

Gesamt                   94.364

Quelle: BAMF

Bereinigte Schutzquote ca. 73%

Geflüchtete aus der  Ukraine: 

31.12.2022: 1.045.181
30.04.2023: 1.063.658

Plus   18.477

Quelle: AZR/Mediendienst Integration

Insgesamt also 30.04.2023:

  94.364 AsylantragstellerInnen
18.477 Geflüchteten aus der Ukraine

112.841 Gesamt (per 30.04.2023)

Vergleicht man dies mit 2022, ergibt sich dieses Bild per 30.04.2022: 

610.103 Geflüchtete aus der Ukraine
57.180 Asylerstanträge
    8.405 abzgl. in D geb. Kinder

658.878 Gesamt per 30.04.2022

Bei richtiger Betrachtung sind demnach in 2023 bisher „nur“ rd. 17% der Geflüchteten nach Deutschland gekommen, die es zum gleichen Zeitpunkt 2022 waren. Dass ja dennoch “viele” sind, bliebt auch hier unbestritten, ebenso wie die Herausforderungen daraus.

„300.000 müssen Deutschland verlassen“

In der Vorlage zum Flüchtlingsgipfel ist erschreckend wenig von kurzfristigen Maßnahmen und Schritten zu lesen, dafür sehr viel von vermeintlich Hilfreichem und vielen langfristigen Ideen, die ohnehin erst einmal realisiert werden müssten. 

Die teilweise abstrusen Ideen auf europäischer Ebene wollen wir an dieser Stelle weglassen und in Kürze an anderer Stelle betrachten. Aber eine seit Jahren immer wieder geführte Diskussion geht um “mehr Abschiebungen” und “mehr gesetzlichem Vollzug” bei abgelehnten Asylanträgen.

Seit zig Jahren schon wird dazu mit der Zahl von vollziehbar Ausreisepflichtigen gearbeitet. Und ebenso seit Jahren schon einerseits mit völlig falscher Grundlage und andererseits mit völlig falschen Erwartungen. 

Es ist schon oft versucht worden, diese Zahlen gerade zu ziehen, die in der Öffentlichkeit genannt werden, aber das gelingt leider kaum. Offenbar ist es – kurzfristig – politisch Erfolg versprechender, zu behaupten, dass 300.000 vollziehbar ausreisepflichtige eben nur ausreisen oder abgeschoben werden müssten und damit alle Probleme gelöst wären. 

Diese Taktik hat nur leider zwei irrige Grundannahmen: 

  1. Es wären tatsächlich 300.000
  2. Man kann diese 300.000 sofort „loswerden“

Beides ist völliger Unsinn. Dazu hier erst einmal die Zahlen und Fakten: 

Vollziehbar Ausreisepflichtige & Duldungen (per 31.12.2022)

304.308 vollziehbar ausreisepflichtig
248.145 davon mit Duldung

  56.163 vollziehbar ausreisepflichtig, ohne Duldung

Schon auf den ersten Blick erkennbar ist, dass man gar nicht über 300.000 reden dürfte, sondern „nur“ über rd. 56.000 Menschen.

Vollziehbar ausreiseplfichtig, ohne Duldung und mit abgelehntem Asylantrag sind es übrigens nur rd. 34.000 Menschen. Daraus sollte man allerdings noch die Menschen aus zB Polen und Ungarn abziehen, die zwischenzeitlich von irregulären MigrantInnen zu EU-BürgerInnen geworden sind, um die Zahl nicht zu verzerren. 

Dann blieben davon noch rd. 22.000 übrig.  

 Von denen sind neben bei rd. Zwei Drittel schon sechs Jahre und länger in Deutschland. 

Damit sollten die beiden o.g. Grundannahmen wohl erkennbar hinfällig sein. 

Es ist also umso sinnloser, einerseits mit aufgeblähten Zahlen zu arbeiten, die in der Öffentlichkeit ja letztlich eine ebenso verzerrte Wahrnehmung auslösen wie andererseits mit genau diesen Zahlen den Eindruck zu erwecken, dass man mit wenigen simplen Schritten irgendwelche großen Erfolge erzielen würde. 

Fazit

Noch einmal deutlich:; Niemand redet die Schwierigkeiten mit der großen Anzahl nach Deutschland geflohener Menschen klein. Dabei jedoch real eine Trennung zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und denen aus anderen Ländern vorzunehmen, verzerrt das Bild massiv. 

Es ist weder so, dass Geflüchtete aus der Ukraine weniger „problematisch“ sind als andere noch sind sie irgendwie „besser“, wenn es um die Themen Unterbringung, Versorgung, Leistungen und Integration geht.

Dazu ein kleiner gedanklicher Exkurs:

Stellen wir uns einfach nur vor, dass der russische Angriff auf die Ukraine nicht im Februar 2023, sondern schon im Februar 2017 erfolgt wäre. Dann wäre die „irreguläre Migration“ um über 1 Mio Menschen höher, denn damals bestand noch keine Visum-Freiheit für UkrainerInnen. 

Stellen wir uns weiterhin vor, dass es keine Auslösung der sog. Massenzustromrichtlinie durch die EU gegeben hätte. Dann wäre jetzt 1 Mio Geflüchtete aus der Ukraine mit Asylanträgen beim BAMF, vermutlich nur ein Bruchteil davon bereits entschieden. Und zudem müssten wir uns früher oder später mit einer erheblichen Zahl von zunächst abgelehnten Asylanträgen aus der Ukraine herumschlagen, weil sehr wahrscheinlich das BAMF von „innerstaatlichen Fluchtalternativen“ ausgehen würde, wie es jahrelang schon bei Afghanistan der Fall war. 

Setzt man dieses Gedankenspiel fort, hätten wir auch schon ein im März 2022 explodiertes Asylsystem erlebt, denn dann wären damals auch noch 600.000 weitere Menschen aus der Ukraine nur staatlich unterbringungspflichtig gewesen. 

Die vermeintliche Lösung „wir müssen nur mehr und schneller abschieben“ ist ein ebenso totes Pferd, das man dabei reitet. Angenommen es wären tatsächlich so viele Abzuschiebende: Was wäre dann gelöst, wenn aus rd. 13.000 Abschiebungen z.B. die dreifache Zahl und 40.000 würden? Die aktuellen, tatsächlichen Themen resultierend aus den Menschen, die ohnehin mit Aufenthlatsrecht hier wären, würden sich nicht um einen cm verkleinern.

Und dazu: Es macht keinerlei Sinn, die Probleme, die Bund, Länder und Kommunen, deren Verwaltungen, Leistungsbehörden, Schulen, Kitas, Ausländerbehörden haben, nach der Herkunft aus einem Land zu trennen. Diese Themen gibt es so oder so, egal woher jemand gerade herkommt. 

Und es wäre weitaus ehrlicher, sich auch in der Diskussion nicht so zu verhalten, als ob man dies auch tatsächlich trennen könnte. Stattdessen wäre es eigentlich an der Zeit, aus positiven Erfahrungen mit Geflüchteten aus der Ukraine zu lernen und dieses Positive auch an anderen Stellen anzuwenden, statt nun eine sich vermutlich immer wieder verschärfende Migrations-Diskussion zu befeuern, die am Ende zu einer völlig verzerrten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit führt. 

Stattdessen sollte man sich vielmehr um tatsächlich helfende Dinge kümmern, die die Verwaltung auf diversen Ebenen entlastet. Neben der Digitalisierung auf allen Ebenen können dazu gehören: Asylschnellverfahren für Menschen aus Syrien und Afghanistan z.B., Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an rd. 22.000 geduldete AfghanInnen, Aufhebung von Arbeitsverboten und der Arbeit nur mit Erlaubnisvorbehalten, Aufhebung der Wohnsitzauflage, Beendigung der staatlichen Unterbringungsplficht bei Aylantragstellung, längere Fristen zur Erteilung von Duldungen, Spurwechsel auch beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder auch simpel der Abschaffung des AsylbLG als besonderes Leistungsrecht, das allen nur mehr Probleme schafft als es angeblich löst. 

Materialien und weitere Quellen:

Zu den Zahlen:

Antworten auf Anfragen im Bundestag

https://dserver.bundestag.de/btd/20/057/2005795.pdf
https://dserver.bundestag.de/btd/20/062/2006232.pdf
https://dserver.bundestag.de/btd/20/057/2005709.pdf

Beschlusspapiere

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