Heute wurde das Bundeaufnahmeprogramm Afghanistan endlich veröffentlicht. Leider fehlen weiterhin wesentliche Elemente, z.B die Aufnahmeanordung, die notwendig sind, um tatsächlich beurteilen zu können, wie das Programm nun tatsächlich umgesetzt wird.
Schon jetzt lassen sich aber ein paar wesentliche Dinge feststellen, die die Wirkung des Programmes stark beschränken und auch gegen alle Beteuerungen gegenüber der Zivilgesellschaft stehen oder wesentliche Forderungen eben nicht übernehmen.
Wir bewerten – vorläufig – auf Grundlage des heute veröffentlichten Standes (17.10.2022, 18:30 Uhr).
Das Programm gilt nur für Menschen, die sich noch in Afghanistan aufhalten.
Damit sind insbesondere die Menschen ausgeschlossen, die in den vergangenen zwölf Monaten besonders gefährdet waren und alleine schon deshalb Afghanistan auf teilweise abenteuerlichen Wegen legal oder auch illegal verlassen konnten, nun insbesondere im Iran oder in Pakistan sitzen und dort auf nicht absehbare Zeit bleiben müssen
2. Keine Direktbewerbung möglich
Die Bewerbung um einen Platz im Programm ist nur indirekt über eine der sogenannten „meldeberechtigten Organisationen“ zugelassen. Eine Liste der „meldeberechtigten Organisationen“ wurde bisher nicht veröffentlicht und uns auch auf Nachfrage noch nicht zugesandt.
3. Score statt Einzelfall
Entschieden wird über die Aufnahme in das Programm nach einem IT-Verfahren und einem bisher noch Unbekannten scoring-System, also einer Punktevergabe. Das IT-Verfahren ist nach Aussagen von beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen bisher weder technisch etabliert noch inhaltlich ausgestaltet. Es ist also bisher nicht klar, welche Faktoren mit welchen Punkten in eine Bewertung einfließen werden.
4. Kriterien unklar
Die auf der Website mehrfach prominent erwähnte Aufnahmeanordnung, also der dem Verfahren und Programm zugrunde liegende Verwaltungsakt, ist bisher nicht veröffentlicht und wurde uns auch trotz Nachfrage bei BMI und Auswärtigem Amt noch nicht zur Verfügung gestellt.
Die Anordnung liegt auch beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht vor. Sie können also auch nicht beurteilen, wer mit welchen Chancen Anträge stellen kann, zumal dies ohnehin auch technisch noch nicht möglich ist.
5. Anzahl der Aufnahmen & Auswahl unklar
Auf der Website wird gesagt, dass man mit 1.000 Menschen monatlich rechne, die über das Programm aufgenommen werden sollen. Gemeint sind damit berechtigte Personen zuzüglich der jeweiligen Familienangehörigen. Rein rechnerisch sind dies dann rd. 250 Berechtigte zuzüglich ihrer Familienangehörigen monatlich.
Man geht selbst davon aus, dass die Anzahl der Bewerbungen wesentlich größer sein wird. Was aber dann mit den nicht ausgewählten Menschen passiert, ist im Verfahren auch noch völlig unklar: Gehen dann die Menschen über den rechnerisch 250 mit dem besten Scoring automatisch in den nächsten Monat über und werden dann aufgenommen oder werden im nächsten Monat wieder die 250 mit der besten Wertung ausgewählt?
6. Verfahren nach Zusage unklar
Wenn dann Menschen die Zusage erhalten haben, sitzen sie ja immer noch in Afghanistan. Gut so, wenn es darum geht, überhaupt vom Programm profitieren zu können. Schlecht, weil eine Aufnahme weiterhin eine Ausreise erfordert, diese wiederum ein Visum für Iran oder Pakistan und dann wiederum einen Termin bei der deutschen Botschaft, um dort das Visum für Deutschland zu erhalten.
Visa für die Ausreise kosten bis zu 1.500 $. Die Reise, Pässe in Afghanistan, Übernachtungen in Pakistan oder Iran, kosten ebenso viel Geld. Und nun? Das Aufnahmeprogramm sagt dazu nichts, weder zu inhaltlichen Erleichterungen, auch nicht zu finanziellen.
7. Abgrenzung zu Ortskäften I
Die Aufnahme der sog. Ortskräfte bleibt weiterhin bestehen. Während jedoch im Bundesaufnahmeprogramm nun der Begriff der sog. „Kernfamilie“, also Ehepartner und minderjährige Kinder, sinnvoller- und löblicherweise aufgehoben wird und auch weitere auch volljährige Mitglieder umfasst, die noch im Haushalt leben, bleibt das Ortskräfteverfahren weiter unverändert und behält mindestens formal diese Begrenzung auf die Kernfamilie bei, selbst wenn bisher vereinzelt auch weitere Familienmitglieder mit aufgenommen wurden.
Unklar ist aber nun auch weiterhin, ob diese im Ortskräfteverfahren unberücksichtigt gebliebenen Familienmitglieder dann ins Aufnahmeprogramm fallen und mit welcher Bewertung.
8. Abgrenzung zu Ortskräften II
Damit ist auch unklar, ob bisher auf den normalen Familiennachzug verwiesene Angehörige von aufgenommenen Ortskräften nun ins Aufnahmeprogramm fallen oder nicht. Es wäre sicher gut, wenn dem so wäre, andererseits würde dies die Zahl dann weiterer möglicher Plätze verringern. Diese Menschen müßten nach unserer Auffassung weiterhin über das Ortskräfteverfahren „gebucht“ werden und dürfen nicht das Bundesaufnahmeprogramm verwässern.
9. Rudimentär-abenteuerliche Website
Man hat den Eindruck, dass heute um 10 Uhr dringend etwas passieren musste, selbst wenn das Ei noch nicht gelegt ist. So ging heute eine Website an den Start, die wesentliche Fragen offen lässt und informationspolitisch bedenklich ist:
- Die Aufnahmeanordnung wurde bisher nicht veröffentlicht, ist aber wie gesagt essentiell.
- Die Koordinierungsstelle mit eigener Website ging sogar mit „lorem ipsum“-Texten an den Start, die sich nun in allgemeine Plattitüden geändert haben, aber nichts Wesentliches aussagen.
- Der Text in den FAQ zur Frage der Aufnahmeberechtigten wurde im Laufe des Tages grundlegend geändert. Ob und wo dies noch passierte, können wir nicht genau dokumentieren.
All dies ist keine vertrauensvolle Kommunikationspolitik, erst recht nicht nach nun zehn Monaten intensivem Verhandeln.
Erste Bewertung
Wir werden seit 14 Monaten von uns bisher unbeantwortbaren Anfragen von AfghanInnen überschüttet. Es sind Hunderte, töäglich kommen neue hinzu. Das ändert sich nun im Moment erst einmal kaum. Außer den Hinweis „Es gibt da was, aber wir wissen weder was noch wie“ kann man kaum geben.
Es war vorbildlich, die Zivilgesellschaft in die Entwicklungsprozesse einzubinden. Es ist aber immer ein leider nicht unbekannter move, dann auf diese Einbindung als Legitimation zu verweisen, aber nicht das umzusetzen, was durchgängig gefordert war.
Wir hoffen, dass der hier offensichtlich gemachte Schnellschuss nicht nur schnell kommunikativ, sondern auch inhaltlich nachgebessert wird. Sonst wäre das Ergebnis nach zehn Monaten trotz allem Bemühen für viele Betroffene und Bedrohte vergebens.