Ein Jahr nach dem Fall von Kabul und damit des ganzen Landes bleiben noch viele Fragen offen, Verfahren ungelöst und vor allem Menschen bedroht. Der Regierungswechsel in Deutschland hat auf dem Papier viel gebracht, in der Realität viele Probleme ungelöst und unverändert gelassen. Bis heute erreichen uns täglich emails von Menschen, die bedroht werden und gefährdet sind und uns um Unterstützung bei der Aufnahme und Evakuierung bitten.
Wir haben noch einmal zusammengefasst, was immer noch zu reformieren, umzusetzen, anzupassen und zu ändern ist:
- Reform und Anpassung des Ortskräfte-Verfahrens
Es ist dringend nötig, das bisherige starre Verfahren zu reformieren:
- Erweiterung des Familienbegriffs weg von der deutschen Kernfamilie hin zu einer länderspezifischen Definition, also konkret auch junger volljähriger Kinder.
- Klare Öffnung auf alle Ortskräfte unabhängig von ihrer Beschäftigungsart. Auch Menschen, die über Werkverträge, als Subunternehmer oder als Angestellte eines Subunternehmers gearbeitet haben, werden weiterhin bedroht und sind gefährdet.
- Anerkennung von Ortskräften als generell verfolgte Gruppe, also weg von individuellen Gefährdungsanzeigen und deren Prüfung
- Keine zeitliche Begrenzung, sondern Anerkennung als gefährdete Ortskraft unabhängig vom Zeitpunkt und der Dauer der Beschäftigung.
- Keine Verknüpfung mehr einer jetzt gestellten Gefährdungsanzeige mit einer irgendwann einmal gestellten als Voraussetzung, dass es nunmehr eine Gefährdungslage gebe.
2. Rechtliche Überprüfbarkeit von Aufnahmeentscheidungen gewährleisten
Bisher erfolgen Aufnahmen über § 22 Satz 2 AufenthG. Nach der bisherigen Definition handelt es sich dabei um einen hoheitlichen Akt. Deutschland entscheidet also letztlich willkürlich und nach bisher. nicht veröffentlichten Kriterien.
Eine gerichtliche Überprüfung ist damit bisher nicht möglich. Diese muss jedoch dringend gewährleistet werden, um bei ablehnenden Entscheidungen des Bundes auch überprüfen lassen zu können, auf welcher Grundlage und welchen Kriterien eine solche Entscheidung erfolgte.
In diesem Kontext ist auch die aktuelle Studie der FAU Human Rights Clinic (Universität Erlangen-Nürnberg) in Kooperation mit PRO ASYL von Bedeutung, die die Aufnahme von Ortskräften als humanitäres Recht erkennt. Hierzu gehören eben auch erkennbare und überprüfbare Kriterien.
3. Start eines Bundesaufnahmeprogrammes
Die in Rede stehende Gestaltung mit derzeit 1.000 Menschen plus Familienangehörige ist viel zu eng und starr. Wir brauchen ein grundsätzliches Aufnahmeprogramm, dass sich an Kriterien für die Aufnahme orientiert und nicht eine zahlenmäßige Vorgabe enthält.
Wenn – wie es ebenfalls in Rede steht – die Auswahl und Aufnahme auf Listen der Zivilgesellschaft übertragen werden soll, ist dies nur dann ein Weg, wenn es hierzu keinerlei Vorgaben gibt, sondern die Auswahl auch tatsächlich dann den beauftragten Organisationen überlassen wird und diese entsprechend materiell dazu ertüchtigt werden.
Dazu muss klar sein, dass ein Bundesaufnahmeprogramm neben dem Ortskräfteverfahren steht und nicht teilweise stattdessen. Volljährige junge Kinder von ehemaligen Ortskräften gehören in ein Ortskräfteprogramm und nicht in ein Bundesaufnahmeprogramm.
4. Einvernehmen mit Landeaufnahmeprogrammen erklären
Mehrere Bundesländer haben Landesaufnahmeprogramme aufgelegt, für deren Inkrafttreten das Bundesministerium des Innern zustimmen muss. Bisher wird diese Zustimmung wegen des geplanten Bundesaufnahmeprogrammes zurückgehalten.
4. Öffnung der sog. Menschenrechtsliste
Aktuell wurde diese sog. Menschenrechtsliste am 31.08.2021 geschlossen. Überraschenderweise hörte die Bedrohung von Frauen, MenschenrechtlerInnen, JuristInnen, MitarbeiterInnen von NGOs oder auch MitarbeiterInnen und Mitgliedern der alten Regierung nicht am gleichen Tag auf.
Die Liste muss wieder geöffnet werden, um diese Menschen zu schützen. Dies muss zumindest solange erfolgen, wie die Aufnahmeprogramme nicht gestartet sind, die Kriterien und die Verfahren dazu klar sind.
5. Online-Visa-Verfahren
Die aktuell erforderliche Visabeantragung in Botschaften in den Nachbarländern Afghanistans ist langwierig. Im Fall von Afghanistan muss man zusätzlich zum Visumverfahren für Deutschland auch noch vorgehend ein Visumverfahren für den Iran oder Pakistan durchlaufen.
Diese Verfahren können weitestgehend online organisiert werden. Gleichfalls können für Menschen mit Aufnahmezusage Visa on arrival erteilt werden, also erst nach Ankunft in Deutschland.
6. Familiennachzug erleichtern & Verfahren beschleunigen
Man wartet beispielsweise in Pakistan mehr als ein Jahr alleine auf den ersten Termin, wenn man den berechtigten Familiennachzug beantragen möchte. Auch diese Verfahren können zunächst alle elektronisch und digital durchgeführt werden, selbst wenn am Ende eine persönliche Vorsprache zwingend bleibt. Es ist gleichfalls nicht einzusehen, dass Termine bei Botschaften zur Fachkräfteinwanderung in drei Wochen zu bekommen sind, jedoch nicht in gleicher Schnelligkeit, wenn es um die Herstellung der Familieneinheit geht.
In diesem Kontext muss auch sofort das EuGH-Urteil zu inzwischen volljährigen Kindern umgesetzt werden. Es ist auch hier völlig unverständlich, dass Deutschland meint, hier noch etwas rechtlich prüfen zu wollen.
7. Zentrale Anlauf-, Beratungs- und Antragsstelle
Bisher laufen Aufnahmeverfahren für Ortskräfte und zur humanitären Aufnahme über alleine vier Ministerien: Das Auswärtige Amt und die Bundesministerien für Verteidigung, Inneres und wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Alleine nach dem 15.08.2021 und dem Fall von Kabul sollen bis zu 600.000 Emails bei verschiedenen Adressen eingetroffen sein. Kein Wunder, denn Betroffene nutzen naturgemäß jede Möglichkeit, ein Schutzgesuch zu äußern, und dies natürlich auch an jeder denkbaren Stelle.
Für alle diese Anfragen gab es kein geordnetes Verfahren. Es erfolgte vielfach weder eine Erfassung noch eine Dokumentation noch eine Bearbeitung.
Hierzu muss es eine zentrale Stelle geben, die auch bei der Antragstellung berät, Anfragen dokumentiert, antwortet, Vorgänge anlegt und tatsächliche Verfahren durchführt.
8. Beschwerdestelle
Bis zur auch rechtlichen Reform des Ortskräfteverfahrens braucht es eine formalisierte Beschwerdestelle, die bei Ablehnungen auch zu einer Lösung und Klärung berechtigt ist.
Alle zentralen Stellen müssen auch transparent und von außen für Betroffene, AnwältInnen und UnterstützerInnen erreichbra und ansprechbar sein.