Die größte “Partei” in Berlin hat rd. 40.000 Mitglieder: Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe. Die zweitgrößte ist mit gut 17.000 die SPD. Ein Plädoyer.
Ende März nannte die Bundesregierung diese Zahl: 6 Mio. Menschen helfen im Frühjahr 2017 Geflüchteten. Den Königssteiner Schlüssel einmal hier angewendet, wären das rechnerisch 30.000 Menschen in Berlin. Ausgehend davon, dass in einer Stadt wie Berlin der Anteil der Helfenden höher ist, gehen wir von mind. 40.000 Menschen aus, die in Berlin immer noch aktiv in der Unterstützung Geflüchteter sind.
Natürlich: Es gibt in dem Grad der Unterstützung immer eine Bandbreite. Manche helfen einmalig, andere 1-2 Std die Woche und wiederum andere nahezu Vollzeit. Darum aber geht es nicht. All diese Menschen zeigen in erster Linie eines: Menschlichkeit.
Wir haben uns schon des öfteren bemüht, die Zahl der Ehrenamtlichen tatsächlich zu fassen, was nur schwer möglich ist. Deshalb bleiben wir einmal bei der o.g. und unserer zugegeben nicht sicheren Hochrechnung auf Berlin. Dennoch gibt es Anhaltspunkte, dass diese Zahl stimmt: So haben sich inzwischen 44.950 Menschen im “Volunteer Planner” eingetragen, einer Platform, die fast ausschließlich in Berlin aktiv ist und für Unterkünfte Engagement von Ehrenamtlichen organisiert.
Längst nicht alle Unterkünfte sind dort verzeichnet. Ebenso sind alle Aktivitäten ausserhalb von Unterkünften dort überhaupt nicht erfasst. Aber auch diese Zahl ist ein weiterer Anhaltspunkt für die Richtigkeit von 40.000 aktiven Menschen in Berlin.
Engagement in der Flüchtlingshilfe ist nicht nur gesellschaftliches Engagement, sondern damit auch immer ein politisches. Natürlich gibt es auch hier erhebliche Unterschiede vom eigentlich nur Helfen Wollenden bis hin zu denjenigen, die politisch grundsätzlich Dinge in der Flüchtlingspolitik ändern wollen. Dennoch: Ein Engagement in diesem Bereich ist immer zugleich auch Ausdruck dafür, eine grundsätzlich positive und liberale Politik gegenüber Geflüchteten unterstützen zu wollen.
Deshalb ist das ehrenamtliche Engagement die mit Abstand größte Partei in Berlin.
Zum Vergleich die Zahlen der Parteien in Berlin zum 31.12.2016:
SPD 17.177
CDU 12.200
Die Linke 7.508
Grüne 5.717
FDP 2.636
AfD 1.180
Damit sind in der Flüchtlingshelfer-“Partei” auch mehr Menschen aktiv als in den derzeitigen Regierungsparteien SPD, Linke und Grüne zusammen. Ebenso sind es mehr als in einer “großen Koalition”.
Natürlich gibt es Schnittmengen, und Flüchtlingshelfer grenzen sich nicht von Parteien ab, sondern sind auch Parteimitglieder oder eben Parteien nahestehende. Dennoch hat sich hier gerade in den letzten zwei Jahren eine Bewegung gebildet, die in der Öffentlichkeit erhebliches Gewicht hat und dennoch so nicht immer wahrgenommen wird.
In gewisser Weise ist dies auch gut so. Nicht jedes zivilgesellschaftliche Engagement muss sich organisieren oder jeden Tag politisch artikulieren. Am Ende ist dabei jedoch jede Art der Äußerung auch immer eine politische, bestärkt man damit doch die Politik und Verwaltung in dem, was sie tut, fordert mehr und Weiteres oder kritisiert man damit Zustände.
Das Entscheidende dabei ist jedoch oft noch ein ganz anderer Punkt: Ehrenamtliche sind ein Querschnitt durch alle sozialen Bereichen sind vom Alter her nicht klar identifizierbar, nicht auf dem gleichen Bildungs- oder Ausbildungsstand, nicht heterogen verdienend oder gar gleich vermögend. Sie sind eine Gruppe, die nicht klar identifizierbar ist. Das macht sie so schlecht greifbar und damit auch schlecht kalkulierbar.
Am Ende aber haben sie alle die gleichen gemeinsamen Nenner, in dem, was sie tun: Es geht um eine humane Flüchtlingspolitik, Menschlichkeit, Kritik an schlechten Zuständen und vielfach auch um eine bessere Gesellschaft.
Der grundsätzliche Wunsch nach Verbesserung des gemeinsamen Zusammenlebens eint eigentlich alle. Diese Verbindung ist damit eine, die die Stadt auch braucht. Diese Menschen sind grundsätzlich positiv eingestellt, bei dem was sie tun. Sie sind aber auch vielfach fordernd: Bessere Unterbringung und Versorgung, bessere Behandlung durch Verwaltung und Behörden, auf Bundes- und auch auf Landesebene.
Es wäre gut, wenn dieser Antrieb sich der ganzen Stadt bemächtigen würde und könnte: Ein besseres Zusammenleben, eine bessere und effektivere Verwaltung, bessere Strukturen, ein besseres Regieren zwischen Land und Kommune, also Senat und Bezirken, sowie schnellere und effizientere Abläufe sind doch Ziele für die gesamte Stadt.
Geflüchtete haben alleine durch ihre Anwesenheit und Anzahl Probleme identifiziert, die vorher schon da waren, aber manchmal nicht so offensichtlich. Sie sind der Auslöser für neue Lösungen, Anstoß für neues Nachdenken und bessere Verfahren. Inzwischen ist in Politik und Verwaltung an mancher Stelle ein Miteinander über Grenzen der Zuständigkeit und der Parteien hinweg wieder verloren gegangen, das 2015 noch vorhanden war. Hier sind alle gefordert, die Chancen zu nutzen, die sich für die gesamte Stadt ergeben haben.
Große Probleme lösen manchmal ein rein problemorientiertes Handeln und Nachdenken aus und stellen nicht Kalkül in den Vordergrund. So denken auch auch die meisten Menschen in der Flüchtlingshilfe. Sie wollen helfen und suchen nach Lösungen. Und jede Lösung, die sich hier ergibt, ist eine für die gesamte Stadt: Sozialer Wohnungsbau ist keiner für Geflüchtete, sondern für jeden schlecht Verdienenden, bessere Verwaltungsabläufe helfen allen, nicht nur Geflüchteten. Einfachere Verfahren und ein besseres Zusammenspiel zwischen Senat und Bezirken bringen alle Menschen nach vorne.
Geflüchtete sind damit nicht “schuld” an Problemen in Berlin, sie haben nur den Fokus darauf gelenkt.
Ebenso tun dies Ehrenamtliche in diesem Bereich jeden Tag mit ihrem Engagement. Die Zivilgesellschaft ist erkennbar bereit, sich zu engagieren. Sie ist ebenso bereit, zu helfen. Sie will sogar beim Nachdenken und Lösen mit beitragen. Andererseits braucht und will sie dafür Unterstützung und Beteiligung.
Die größte “Partei” in Berlin will ernst genommen werden. Diesen Anspruch hat sie gegenüber allen anderen Parteien, die dies von ihren Mitbewerbern auch fordern. Viele Vorschläge sind sach- und problemorientiert. Das haben wir manchmal den echten Parteien voraus. Gleiches gilt für Lösungen, die wir vom Problem aus angehen und betrachten und nicht nach Parteiinteressen oder Abgrenzungsdenken analysieren. Über manch politisch Intendiertes mag man danach dann lange streiten.
Die Bewegung der Ehrenamtlichen ist nicht Gegner an sich für Politik oder die großen angestammten Player im sozialen Bereich, sie sind eine neue Ergänzung und eine erhebliche Erweiterung der Basis. Wir sind kritisch, aber konstruktiv. Fordernd, aber auch anerkennend. Wir arbeiten und leisten viel, wollen aber dabei nicht ersetzen, sondern ergänzen. Dabei geht es um ernst genommen und anerkannt werden und ebenso den Anspruch, nicht ausgenutzt zu werden.
Wenn wir Lösungen für Menschen und am Ende für die Stadt finden, kann es keine Unterschiede geben. Alleine insofern hat die größte “Partei” Berlins bereits jetzt schon viel bewegt. Und machbar und gewollt ist noch viel mehr.