Andrea Petzenhammer, Vorstandsmitglied bei encourage e.V., hat als erste Reaktion auf diverse Medienberichte einen Artikel zur Situation der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten in Berlin geschrieben. Wir veröffentlichen diesen als Gastbeitrag.
Heute ging die Meldung durch die Presse, dass sich minderjährige und junge volljährige Geflüchtete prostituieren. Wer wissen möchte, warum, muss mehr tun, als ein paar betroffene Fragen an Jugendliche zu stellen, die selbst die Antwort nicht wissen. Wobei der Umstand, dass die Betroffenen ihre Lage schon falsch verstehen, deutlich auf das eigentliche Problem aufmerksam macht: Sämtliche „Sicherungssysteme“ für Geflüchtete, insbesondere für die Jüngeren, verdienen ihren Namen nicht. Sie sind langsamer als langsam, viel zu kompliziert und haben so große Löcher, dass man sie beim besten Willen nicht mehr als Netz bezeichnen kann.
Um es genau zu machen: Selbst die deutschen Muttersprachler in Form von Ehrenamtlichen brauchen Schulungen, um halbwegs durch die Institutionen BAMF, LAF, LABO, SenBJW durchzusehen, ganz zu schweigen von ihren Schnittstellen. Kein Wort verstanden? Kennen die Jugendlichen. Zu Genüge. Und die können oft kaum Deutsch.
Eigentlich
Zum Hintergrund: Jugendliche, die minderjährig in Berlin ankommen, werden von der Senatsverwaltung, dem sogenannten Landesjugendamt, in Obhut genommen. Nach einer Clearingphase und Altersfeststellung werden sie, soweit die Senatsverwaltung (SenBJW) die Minderjährigkeit anerkennt, in Bezirksjugendämter überwiesen. Diese finden Unterkünfte die deutschen Jugendschutzstandards genügen, die Jugendlichen werden betreut, bis sie flügge sind – also oft bis zum 21. Lebensjahr, denn Trauma, eine neue Sprache und unbekannte Kultur können ganz schön zurück werfen in der Entwicklung und Eigenständigkeit. Anschließend übernimmt das LAF (Landesamt für Flüchtlinge) den Unterhalt für die im Verfahren befindlichen, abgelehnten oder lediglich geduldeten Flüchtlinge. Vom BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) anerkannte Geflüchtete wechseln zur Agentur für Arbeit oder verdienen sowieso bereits eigenes Geld.
Soweit die Theorie.
Die Praxis sieht leider anders aus. Die Jugendlichen, die 1998 und 1999 geboren wurden, haben zu großen Teilen nie die „echte“ Jugendhilfe kennen gelernt, da SenBJW und Bezirksjugendämter zusammen mit der damals rot-schwarzen Regierung einfach viel zu sehr mit ihrer Überforderung beschäftigt waren, als dass man sich hätte um den Ausbau der Betreuungsplätze oder Sachbearbeiteranzahl in den Bezirksjugendämtern kümmern können. Auch die Beratungsstellen wurden nicht nennenswert ausgebaut. Ein schöner Gegensatz zum immer rigider vorgehenden, Klagen produzierenden Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Notbetreuung heißt jetzt Clearing
Noch immer – eineinhalb Jahre nach der Ankunft der größten Anzahl an Geflüchteten – sind hunderte Minderjähriger in der Notbetreuung oder im Clearing, was oft genug kosmetisch umdeklarierte Notbetreuung bedeutet. Wegen fehlender Vormünder wurde nie ein Asylantrag für sie gestellt. Wenn sie 18 werden, klemmt man ihnen ihre Akte unter den Arm, klopft ihnen väterlich auf die Schulter und schickt sie ohne Betreuer oder Unterstützter ins System. Das heißt, nach rund 18 Monaten in Berlin stehen die Jugendlichen an ihrem 18. Geburtstag in der Schlange der Geflüchteten, die an diesem Tag neu in Berlin angekommen sind, vor dem angsteinflößenden, berüchtigten Tempelhof Hangar Nr. 5.
Erstens, zweitens, drittens
Nach einer Nacht in der Massenunterkunft fährt der Bus morgens um sieben in die Bundesallee zur Registrierung mit Fingerabdruck und Foto. Der Asylantrag wird gestellt, denn die Jugendlichen dürfen ja nun für sich selbst handeln, brauchen für die Antragsstellung keinen Vormund mehr. Gern drückt man Ihnen direkt die Ladung für die Anhörung gleich am nächsten Tag in die Hand – also für das Gespräch, das über das gesamte Verfahren entscheidet. Nach einer weiteren Nacht im Hangar werden sie durch die Behörde auf Speed gezerrt, wie „Die Zeit“ letztens so passend titelte. Erste Fälle sind bekannt, die direkt am Tag nach der Anhörung ihre Ablehnung in der Hand hatten, so „intensiv“ wurden die Einzelfälle geprüft. Im Bescheid steht in diesem Fall, dass die jungen Erwachsenen innerhalb von 30 Tagen Deutschland zu verlassen hätten. Panik ist vorprogrammiert, denn niemand steht den Jungen bei oder klärt sie über ihre Möglichkeiten zur Klage gegen diese zudem fragwürdigen Bescheid auf. Viele laufen davon und versuchen sich aus Angst vor der Polizei oder den Behörden vor einer vermeintlichen Abschiebung zu verstecken. Sie fallen aus dem System, werden obdach- sowie mittellos und so zu leichten Opfern.
Abseits vom traurigen Standard
Nun sind das aber nur die Fälle, die regulär volljährig sind und es emotional und fehlerfrei durch das System geschafft haben. Viele Jugendlichen schaffen es aber schon gar nicht so weit, etwa, weil sie Angst haben vor dem Hangar, irgendeine Abzweigung in einer der Behörden verpassen oder selbst schon ein emotionales Päckchen mitbringen, mit dem sie den Druck in den Behörden nichts entgegen zu setzen haben. Die vielleicht Analphabeten sind und nicht durchsehen, was die vielen Securities und ungeduldigen Sachbearbeiter von ihnen wollen. Die die Dolmetscher nicht verstehen, etwa weil die Sprachen Farsi, Dari und Pasthu zwar alle von Afghanen gesprochen werden, aber eben doch eigenständige Sprachen sind. Diese Jugendlichen verliert man an diversen Stellen im System.
Und immer wieder: Falsche Altersschätzungen
Und dann gibt es noch die Fälle der falsch volljährig geschätzten Jugendlichen. Wie hier und hier beschrieben, werden immer wieder Jugendliche volljährig erklärt, bei denen mindestens schwere Zweifel an einer Volljährigkeit angebracht sind. Ehrenamtliche reiben sich an Fällen auf, die für den gesunden Menschenverstand eindeutig minderjährig aussehen, für SenBJW jedoch Anlass für eine Entlassung aus der Inobhutnahme sind, mit dem bekannten Behördenalbtraum, wenn man gegen die Entscheidung vorgehen möchte. Diese Jugendlichen also geraten in die Mühlen dieses Prozesses, der sie halt- und orientierungslos, dafür aber voll mit Angst zurück lässt. Minderjährige in einem System, das Erwachsene massiv verzweifeln und aufgeben lässt, bricht Jugendliche.
Katastrophe mit Ansage
Es gibt aus meiner Sicht keinen einzigen Grund zur Verwunderung, warum sich Jugendliche im Tiergarten (und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur dort) prostituieren, warum sie Drogen und Kriminalität zum Opfer fallen. Das einzige, worüber man sich wundern sollte, ist eine Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, die Minderjährige volljährig macht, ohne jede Kritikfähigkeit. Eine Senatsverwaltung, die nach eineinhalb Jahren immer noch keinen altersgemäßen, betreuten Übergang in das Erwachsenensystem geschaffen hat. Offenbar ist es nicht möglich, die Jugendlichen, die in einem Monat volljährig werden, einen Monat früher für die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünfte anzumelden. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass an dieser Stelle das LAF gerne unterstützt und auch Lösungen für Jugendliche findet, die rechtzeitig angekündigt werden.
Jugendhilfe für junge Volljährige faktisch abgeschafft
Wundern darf man sich hingegen, dass die Jugendhilfe für junge Volljährige praktisch eingestampft worden ist. Es wird zunehmend schwerer bis unmöglich, volljährige junge Geflüchtete in der Jugendhilfe unterzubringen, obwohl es mehr als dringend angezeigt ist, diesen Jugendlichen Schutz und Unterstützung anzubieten. Ob das rechtmäßig ist, steht in Zweifel, zielführend ist es jedenfalls nicht. Von human oder mitfühlend will man ja gar nicht mehr anfangen.
Über die Autorin
Andrea Petzenhammer arbeitet im richtigen Leben in einer Berliner PR-Agentur. Seit Ende 2015 engagiert sie sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe. Innerhalb der Initiative encourage e.V. qualifizieren sie und andere Engagierte weitere Ehrenamtliche, die minderjährige Geflüchtete unterstützen wollen.